Haben oder Sein: To be or not to be...

Offener Brief an die lippische Landeskirche, geschrieben 12.03.2009


Nachtrag im Lutherjahr 2017: "Zu Ehren des großen Reformators" , einem "Vorbild in Standhaftigkeit und Mut" gibt es im ganzen Land übers Jahr Veranstaltungen, Lemgo erklärt sich zur "europäischen Reformationsstadt"... Sein "Von der Freiheit eines Christenmenschen"  hat emanzipatorischen Charakter, doch spätere, wenig bekannte Hass- und Hetzschriften zeigen das Gegenteil: "Wider die räuberischen Rotten der Bauern", gegen Hexen, Türken und Behinderte. Sein "Wider die Juden und ihre Lügen" wurde von Hitlerdeutschland an seinem 455. Geburtstag als "Rechtskristallnacht" umgesetzt. Der später Luther war konservativ: Ein Verkünder des Patriarchats, er forderte Unterwerfung unter die Obrigkeit, predigte gegen Andersgläubige, Aufständische, die Täufer  und das neue Weltbild... Ein Kind seiner Zeit?  Es gibt aber Zeitgenossen, die schon damals für Humanismus und Menschenrechte eintraten und  dies mit ihrem Leben bezahlten: Fritz Erbe, ein Bauer und Täufer, der nach vielen Jahren Haft in einem Verlies auf der Wartburg 1548 starb.  Michael Sattler, 1527 als Erzketzer und Staatsfeind gefoltert und verbrannt. Und Erasmus von Rotterdam, der 1517 in seiner "Klage des Friedens" eine "krankhafte Streitsucht ...Lust am Krieg" ausmacht: "Wo Gründe durchaus fehlen, erdichtet man einfach Kriegsursachen". Wenn uns am Frieden und Wohl der Menschheit gelegen ist, sollten wir diese Menschen ehren!

Stand Anfang 2014: Wir haben einen neuen Landessuperintendenten. Dr. Dutzmann arbeitet in Brüssel und Berlin als Verbindungsmann zwischen EKD und Politik. Gibt es neue Anzeichen für eine Hinwendung meiner Kirche zu einem jesualen Weg der Liebe und des Friedens?  In der Denkschrift von 2007 war der "gerechte Krieg" durch das Leitbild eines "gerechten Friedens"  ersetzt worden. In einer neuen Stellungnahme zum Afghanistankrieg zeigen sich nun entgegengesetzte Wahrnehmungen dazu. Eine Gruppe spricht weiter vom Selbstverteidigungsrecht Deutschlands als legitimem Kriegsgrund , deswegen sei es geboten, die "Kriterien der Friedensdenkschrift weiterzuentwickeln".  Huber, Schönbohm u.a. werben für den Aufbau der Garnisonskirche Potsdam, dem Sinnbild für eine protestantische Militärkirche. Sie soll 2014-18 auch mit kirchlichen Geldern errichtet werden! Als "Mahn- und Denkmal" gegen den Militarismus eignet sie sich nicht. So muß ich weiter warten und hoffen...

Vorangestellter Nachtrag (18.1.2011), angeregt durch Nina Hagen im Publik-Forum Interview: "Du kannst einen wahren Christen daran erkennen, dass er keine Waffe in die Hand nimmt". Huber sagte im Juni 2008 in Bezug auf CA 16 (Augsburger Bekenntnisse): "Verdammt d.h. nachhaltig kirchlich ausgegrenzt werden...diejenigen, die bestreiten, dass es einem Christen erlaubt sei, als Soldat tätig zu sein." Demnach bin ich mit dem Austritt einer Verdammung durch meine Kirche zuvorgekommen. 

      Auf  Wiedersehn!

(Oder ich gehe freiwillig angesichts des Servetus- Verfahrens)

              

 Vor 62 Jahren wurde ich in der Braker Kirche getauft und damit in die Christenheit aufgenommen. Meine Eltern erzogen mich menschlich, nicht kirchlich. Das Schulfach Religion war deshalb für mich zuerst etwas Obskures, aber ich lernte schnell von Jesu Vorbild. So wurde ich bei meinen ersten Braker Dorfmeisterschaften im Laufen kurz vor dem Siegerziel langsamer und ließ den Zweiten vorbei ziehen: Nicht siegen wollen sondern den Nächsten lieben! Den Dauerlutscher für den 3. Platz im vorherigen Springen hatte ich unterwegs verloren.

Zurückhaltung und Bescheidung wurden Begleiter auf meinem weiteren Lebensweg. Ich merkte, dass ich nicht immer das bekommen kann, was ich gerne möchte. Also lernte ich, immer das zu mögen, was ich bekomme: Ich bin zufrieden.

Pastor Möller wählte einen herausfordernden Konfirmationsspruch für mich: Stelle Dein Licht nicht unter den Scheffel...

In der Jugend war ich mit Charly Uthoff und den lippischen CVjMännern viel auf Reisen. Um 68 erkannten wir im Braker CVjMenschen, dass Jesus Revolutionär war. Im Sommer 69, Heinrich erinnerst du dich?, haben wir mit Pastor Danger und 20 anderen Jugendlichen den verwelkten Prager Frühling besucht. Durch Pastor Diestelmeier sah ich, wie sich die christlichen Sprüche von Reue, Feindesliebe und Versöhnung mit Leben füllen lassen: Auch Atheisten und Kommunisten sind Gottes Kinder und das nahe sowjetische Kriegsgefangenenlager (Stalag bei Stukenbrok) mahnt uns: Nie wieder Krieg. Feindbilder sind Eingebungen des Teufels.

 Seit der Zeit hat sich viel verändert!

 Nun sehe ich eine andere Zeit gekommen, in der Kirche, aber auch bei mir: Pflichten, Rücksichten und Verbindlichkeiten wegen Beruf, Familie und Reputation treten zurück. Das heißt für mich: Weniger Kompromisse, Zugeständnisse und Zurückhaltung, mehr Klarheit, Wahrheit und Offenheit.

Letztlich ausgelöst durch die Ernennung des lippischen Kirchenchefs zum Militärbischof  will ich nun auch mein Verhältnis zur Institution Kirche klären!

Wer in den letzten Jahren meine Äußerungen gelesen hat, müsste schon längst mit meinem Austritt gerechnet haben.

Aber es gab ja auch immer wieder Erfreuliches:

EKD-Kirchentage

Das Wort des reformierten Weltbundes in Accra.

Die Schrift der LLK 2004 zum Islam: Gemeinsames finden, Verschiedenes achten. Vom Lernen, Begegnen und gemeinsamen Tun.

Das Haus der Weltreligionen in Steinbergen/Rinteln (www.haus-der-weltreligionen.de ), in dem ich weiterhin Mitglied bin.

Gottesdienste, Gespräche, Seminare in Loccum

Friedensgruppen, soziale und ökumenische Initiativen...

Doch durch den Kurswechsel in den Leitungsetagen wurde der Abstand der Kirche zu meinen Vorstellungen von Jesu Nachfolge immer größer.

Einiges von dem , was mich im Laufe der Jahre irritiert hat:

Direkt nach 9/11 forderte ich in einem Leserartikel in der LR auf, jetzt statt Konfrontation zum Islam die Gemeinsamkeiten zu betonen. EKD-Chef Huber tat das Gegenteil in einem Focus-Interview mit dem Titel „Nicht der gleiche Gott“. Die neue Linie wurde deutlich: Unser Gott ist der jüdisch-christliche! Und weiter ging es mit den Evangelikalen  auf die Seite der Zionisten: „Israel ist der Augapfel Gottes, den wir Christen beschützen müssen“ (nicht nur an der Herforder Straße gehört, auch von einem Prediger im Berliner Dom; beim Gespräch hinterher freute er sich, dass ich aus Brake kam: Er hatte seine Ausbildung auf Eikermanns Berg bekommen).

 

Als ältere Schwesterreligion hätten sich die Christen bei Demütigungen der Moslems zu Wort melden können, aber sie bemerken deren Demütigung gar nicht. Beispiel: Als Trittin den Vorschlag eines gemeinsamen Abraham-Feiertages  machte, wurde er in der BILD mit Turban und der Schlagzeile abgebildet: „Schickt ihn in die Wüste“- wie Hagar und Ismael. Welch ein Aufschrei, wenn er eine Kippa getragen hätte.

 Der neue EKD-Text 86 zu „Christen und Muslime in Deutschland“ gibt guten Nachbarschaftswillen vor, zeichnet aber ein negativ verzerrtes Bild, eine Karikatur des Islam. Er gießt Öl ins Feuer, statt zu löschen. Warum kommt nicht auch der friedlich-menschliche Islam zu Wort z.B. mit dem Sufismus, den muslimischen Versöhnungsaktivitäten beim Hutu-Tutsi Völkermord, den Friedensinitiativen des jordanischen Königs oder Chatamis... Nach dem Lesen dieses Textes ist die Xenophobie vor dem muslimischen Nachbarn größer als vorher!

Im Jahre 2003 gab es eine Theatertournee von palästinensischen und israelischen Jugendlichen „Wir weigern uns Feinde zu sein“(!), die auch in Lemgo gezeigt werden sollte. Sie wurde vom Sektenbeauftragten der EKD (und in Verlängerung von Pastor Wagner) wegen Unterstützung durch die Gemeinschaften Tamera/ZEGG  blockiert.  Deutsche evangelische  Christen behinderten damit die jesuale Entfeindung der Opfertäteropfer des Holocaust!

Jedes Jahr am 9. November werden schamvolle Gedenkfeiern zur Pogromnacht des NS-Regimes auch von den Kirchen unterstützt. Ich empfinde sie mehr und mehr als Heuchelei. Wo bleiben dabei Worte über unsere Verantwortung zur Lage in Israel/Palästina als eine der Folgen, über die NS-Beteiligung der Kirchen, über die antisemitischen Einstellungen der Kaiserzeit, über Luthers späte Judenschrift „Wider die Juden und ihre Lügen“ („Erstlich, dass man ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecke..“), über die „war on evil“- Mentalität unserer US-Glaubensgeschwister, über Hexenverfolgung und Inquisition, über die Brutalitäten der hiesigen Christianisierung (Karl der große Sachsenschlächter) und die Auslöschung fremder Kulturen (z.B. Bücherverbrennung der Mayaschriften) und unserer eigenen Ahnenkultur (...die Irminsul an den Externsteinen geknickt)? Die evang. Kirche ist sehr selbstkritisch? Alles dies habe ich nicht während meiner „Glaubensbildung“ von der Kirche gehört, sondern musste es selbst erkunden! 

Die letzten EKD-Texte zeigen eine veränderte Kirche: Profilbildung durch Abgrenzung und Konfrontation zu anderen Glaubensrichtungen einerseits,  Anbiederung an Staat und Wirtschaft andererseits. Z.B. die Unternehmerdenkschrift: Ablehnung der Tobinsteuer, für die wir bei Attac seit Jahren eintreten. Stattdessen ein mit globaler sozialer Marktwirtschaft verbesserter Kapitalismus. Vergessen scheint zu sein, dass das kapitalistische System in seiner Grundstruktur die Gier  füttert, andererseits massivste Ausbeutung von Mensch und Natur herausfordert und längst als kriegsfördernd und erdzerstörend erkannt wurde, z.B. im Ahlener Programm der CDU 1947, im Generalstreik 12.11.1948 gegen die Erhardtsche Wirtschaftspolitik, zuletzt beim Kongress des Reformierten Weltbundes in Accra 2004 gegen das „Imperium“.

Auf dem 2. ökumenischen Kirchentag 2008 in Lippe trat ein bekannter evangelikaler Massenprediger auf: „Die Mystik a la Willigis Jaeger ist sinnentleert“. Doch auf mich wirkten die Worte dieses Predigers sinnlos, seelenlos und pharisäisch.  Dagegen finde ich christliche Mystiker wie Jaeger und Meister Eckhardt eher wegweisend. Außerdem:  Oikoumene  heißt „die ganze bewohnte Erde“ als Haus für alle Menschen. Dann müssten doch auch nicht-christliche Religionen eingeladen worden sein? Küng: Frieden auf der Erde ist nur zu erreichen durch Frieden unter den Religionen. 

Mit der Ernennung von Landessuperintendent Dr. Dutzmann zum Militärbischof  ist für mich der Entscheidungspunkt erreicht. Ich kann nicht mehr folgen, wenn deutsche Soldaten als „barmherzige Samariter(!) auf globaler Ebene“ christlich eingesetzt werden (Interview in Ev. Militärseelsorge vom 24.9.08). Mich erinnert es eher an das Wirken der Militärtheologen in den Weltkriegen: Feindbilder unterstützen und Mitmenschlichkeitsgefühle unterdrücken, damit der Soldat ein wehrhaftes Werkzeug von Politik und Militär bleibt. („Gott mit uns“ nicht nur auf dem Koppelschloss, für Kaiser, Führer, Vaterland! Frage: Wie verhielten sich die Militärgeistlichen bei den Weihnachts-Fraternisierungen im 1.Weltkrieg?) Oder wenn die „grundsätzliche Ablehnung von Gottesdiensten zu Nationalfeiertagen wie bei Haarbeck und Beier nicht sinnvoll“ gesehen wird (Beitrag im Buch „Kirchliche Feste“).

Jetzt scheint sich auch in Lippe die Huber-Linie durchgesetzt zu haben.  „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ sind beiseite gelegt.  Unsere Oberen sind Funktionäre der Kircheninstitution geworden. Deren vorrangiges Ziel ist die Erhaltung und Stärkung der ev. Kirche als staatlich geförderte Gebietskörperschaft. Das scheinen sie erreichen zu wollen durch Kumpanei mit staatlichen Eliten. Oder zählen sie sich selbst dazu? Herr Huber nach einem Gottesdienst 2005 im Berliner Dom an die erste Reihe, in der u.a. der stellvertr. Ministerpräsident und Innenminister Schönbohm saß (früher kommand. General in Augustdorf und Erfinder der deutschen „Leitkultur“): „Und gleich darf ich Sie einladen ins Adlon“. Ich hatte hinter einem Leibwächter von Schönbohm Platz genommen, war aber nicht gemeint.

Haben Sie hier einen alten Friedensdogmatiker vor sich? Als pflichtbewusster Mensch war ich Zeitsoldat und habe z.B. 1967 die Begeisterung unserer Offiziere beim 6-Tage-Krieg miterlebt. Und in einem Soldatenseminar wurde damals auch von Geistlichen die Apartheit in Südafrika gerechtfertigt. 

Seit einigen Jahren stelle ich vermehrt eine Entwicklung in der EKD fest, die ich nicht mit Jesu Vorgaben in Einklang sehe. Statt echtem Dialog, Entfeindung, Liebe zum Anderen, auch Andersgläubigen wird wieder Wagenburgmentalität und Fremdenangst gefördert. Das widerspricht m.E. auch den Schöpfungsgesetzen: Statt Vielfalt und Kooperation im Ganzen üben wir weiterhin Einfalt und Konfrontation (Mission: Nur wir!). Statt der göttlichen Co-Evolution trainieren wir die K.o.-Evolution, immer noch dem Newtonschen Weltbild der mechanisch-analysierenden Teilwissenschaften anhängend und Darwins „survival of the fittest“ missverstehend.

Und so lässt sich denn auch mit kirchlichem Segen nach den Juden, den Wilden, den Franzosen, den Kommunisten... wieder ein neues Feindbild aufbauen: der Islam. Dabei sind dessen fundamentalistische Abarten wie Mudschahedin, Al Kaida, Taliban und auch Hamas erst vom christlichen Westen hochgepäppelt worden als Waffe gegen den Erzfeind Kommunismus.

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Bewegt sich meine Kirche, die mich in den 60ern und 70er Jahren so beeindruckt hat,  regressiv auf die Zeit vor Schleiermacher zurück? Die Dogmen des Konzils zu Nicäa (325, Verbannung anderer nicht staatstragender Glaubensrichtungen, ein trinitarisches Glaubensbekenntnis als Fahneneid auf die Kirche, immer wiederholt mit der Penetranz einer Persilwerbung) und des Augsburger Bekenntnisses (1530, CA 16, Verdammnis von Irrlehren, göttliche Obrigkeit) wurden nie abgeschafft. Die Calvinistische Erfolgsfrömmigkeit als eine Grundlage des Kapitalismus (Max Weber) trägt jetzt besondere Frucht in Gods own country. Auf der langen Reise durch ihre 2000-jährige Geschichte hat die christliche Kirche selbst viele Irrwege begangen... 

Folgen und Fragen

Bei meinen Reisen nach Palästina/Israel habe ich Jesus am ehesten in der Gegend um den Tiberias-See (See Genezareth) und in der Wüste gefunden- vier Tage Stille! Am wenigsten fand ich ihn in der Kirche am sog. Geburtsort Bethlehem: Die christlichen Kirchen liegen seit Jahrhunderten in einem erbitterten Streit um jede Ecke dieses Gebäudes. Die Schlüsselgewalt liegt deswegen in der Hand einer islamischen Familie!

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 Meine Kirche, die so viel Kraft zur Veränderung hatte, wendet sich von dem notwendigen Paradigmenwechsel ab. Sie hätte eine Alternative zu den bisherigen, nicht mehr tragfähigen Lebens- und Denkmustern des gegenwärtigen Systems bieten können, indem sie Jesu Lehre und Leben ohne Selektion in den Mittelpunkt stellte. Warum gelingt diese neue Wandlung nicht? Sind Dogma und Tradition zu stark für die Christenmenschen (500 Jahre Calvin mit seiner Kirchenzucht) als dass sie Jesu noch nachfolgen könnten? Sind die Führer der Faszination ihrer Verstandeskraft und Lehre so erlegen, dass sie den großen Geist aus dem Sinn verloren haben? Woher nehmen sie die Gewissheit, dass sie die Autorität sind und mir sagen können: Aus unautorisierten Quellen darfst du keine Kraft schöpfen! „Wider die Engführung in Individualismus und Spiritualismus“, wurde gesagt. In meiner Kirche habe ich die Weite des Herzens immer weniger gefunden!

I’m not afraid of yourJHW, Allah, God... I’m afraid of what you do in the name of this God (ein Buddhist).

Wir erkennen immer mehr die Grenzen unserer eigenen Wahrnehmung: Absolute Wahrheit zu behaupten ist ein Zeichen von Ignoranz (sagt der Quantenphysiker Hans Peter Dürr).

Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein oder er wird nicht sein (Karl Rahner).

Rainer Kluckhuhn  

(Per e-mail am 12.03.09 abgeschhickt; ohne Antwort)