Haben oder Sein: To be or not to be...

Rainer Kluckhuhn,                                                 18.12.2009

Stucken 25, 32657 Lemgo 

                                 

An die Grünen in Stadt und Land

Liebe Parteifreunde,

 zehn Jahre sind genug! Das Rotationsprinzip in Ehren: Seit Juni 1999 bin ich Mitglied der Grünen, jetzt mache ich Platz für andere. Wer meine Äußerungen der letzten Jahre verfolgt hat, wird schon früher damit gerechnet haben. Von meinen Schwerpunkten Eine Welt, Ökologie und Frieden sind die letzten beiden zunehmend kritischer geworden: In der Ökologie fehlt mir die Tiefe (siehe http://wiki.gruene-kreisgt.de/LAG_Gesellschaft_der_Zukunft  ganz unten). Und in der grünen Friedenspolitik sind Konfliktprävention und Gewaltvermeidung kraftlos geworden. Statt dessen wird über die Nebel des Krieges lamentiert (McNamara „The Fog of War“).

Der Afghanistan-Konvoi ist mit uns Grünen gestartet. Obwohl Deutschland wegen seiner Historie die Möglichkeit hatte, nein zu sagen, sind wir in die „Bündnisfalle“ getappt (Winni), zur NATO Freude unserer US Freunde. Seit Jahren sagen wir „die Richtung ist zu militärfixiert“, aber bei Entscheidungen stimmten viele grüne MdBs zu, statt zu sagen „wenn die Richtung sich nicht ändert, steigen wir aus“! Was machen wir jetzt? Wir enthalten uns (immerhin folgen jetzt mehr MdBs dem Göttinger Beschluss "nicht zuzustimmen"), fahren weiter mit und lassen die Geschwindigkeit sogar noch steigern. (Das Aussteigen muss ich jetzt allein tun.)

 

Der Kosovo-Konflikt hatte mich zum Partei-Eintritt bewegt. Ich wollte mitdenken und mitreden, damit so was nicht noch mal passiert (Was ist eigentlich aus der Uranmunition geworden? Tom, erinnerst Du Dich?). In meiner Eintrittserklärung schrieb ich vor 10 Jahren: „Krieg und Demokratie sind unvereinbar. Die zur Meinungsbildung notwendigen richtigen Informationen sind nicht gewährleistet. Sobald die Handlungsgewalt den Militärs übergeben wird, entwickelt sich eine immer schwerer zu beeinflussende Eigendynamik. Kreativität und Spielraum der Politik werden schlagartig vermindert....Die Wahrheit ist das erste Opfer: Immer damit rechnen, dass die Wahrnehmung von Kriegsinformationen auch eine Falschnehmung sein kann....Der „Humanitäre Krieg“ ist nicht nur ein in sich widersprüchlicher Begriff, er sorgt auch für Verwirrung in den Köpfen und Lähmung.....(Dringlich ist eine) Untersuchung der neuen NATO-Doktrin, in wieweit dadurch Zugriffe auf Rohstoffe, Absatzmärkte usw. gesichert und erweitert werden sollen und deswegen global neue Ungerechtigkeiten (und Konflikte) erzeugt werden.“ 

Kriegs- und Konfliktprävention,

damals auch als Grünen-Initiative gestartet (z.B. ZFD), hätte zusammen mit der Gorbatschow-Vision eines feindfreien 21.Jahrhunderts zu einer gewaltärmeren, gerechteren Welt führen können, in der Deutschland mit seinem einzigartigen Bekenntnis von Kriegsschuld und „Nie wieder Krieg“ ein Vorbild geworden wäre. Ist diese Hoffnung der US-Dominanz und dem NATO-Erhalt geopfert worden? Die Gründe für die verpassten Chancen dieses Zeitfensters wurden nicht genügend herausgearbeitet. So werden alte Fehler wiederholt. 

Während des 6-Tage-Kriegs (1967 Israel-Arabien) habe ich als Z2 in der Bundeswehr die Offiziersdiskussion verfolgt: „Ein Krieg hier? Keine Angst; bei uns ist die Situation anders. Im kalten Krieg ist die Aufgabe der Soldaten nur, den Feind abzuschrecken. Ein heißer Krieg hier wäre unverantwortbar“. Was bin ich froh, zu den Frühgeborenen zu gehören, die heute nicht mehr (der Politik) gehorchen müssen. Und ich hoffe, dass dieser Krieg nicht zu sehr in unseren Alltag hineinkriecht, durch die Nachhaltigkeit von Gewalt in Traumatisierten oder gemäß dem biblischen Auge um Auge... 

Bei starken Meinungsunterschieden frage ich mich immer, wie trotz ähnlicher Interessen und Ziele die Wahrnehmung und Beurteilung der Realität so unterschiedlich sein kann. Vielleicht liegt es daran, dass auch Grüne zunehmend von der Berufskrankheit der Politiker (Höhenkoller) ergriffen werden (Geschenk:Goldener MontBlanc)? Wer z.B. nach Afghanistan reist, wird als Geldgeber hofiert von den 10% oberen Afghanen, die durch den Krieg wichtig oder reich werden (z.B. Spanta), hat aber kaum Chancen den Überlebenskampf der restlichen 90% hautnah zu erleben. Viele NGO’s wie medico international geben daher ein ganz anderes Afghanistan-Bild wieder. 

Der Siegfried-Mythos lebt: Ein Siegfrieden über den Feind bringt Moral und Gerechtigkeit. Das Böse steckt immer in den Anderen! Aber in jedem Krieg meinte jede Seite das Gesetz und die Moral bei sich zu haben. 1945 sagte der US- Chefankläger der Nürnberger Prozesse: „Das Maß, mit dem wir heute über die Angeklagten Recht sprechen, ist das Maß, mit dem die Geschichte morgen über uns Recht sprechen wird.“ Guernica, Lidice, My Lai, Grosny, Srebenica, Falludja, Gaza... Nach USA und Israel wird vielleicht auch das demokratische Deutschland sich eines Tages vor dem internationalen Strafgerichtshof verantworten müssen. Wer wird dann Schuld-beladen sein? Der schießende Soldat, der befehlende Offizier, der beauftragende Politiker, der wählende Bürger? Krieg und Demokratie...!? Anders gefragt: Sind Kriege für Demokraten besonders nachhaltig effektiv, weil die Verantwortung so verteilt ist, dass kaum ein Beteiligter verantwortlich gemacht werden kann; höchstens die Ausführenden ganz unten (Abu Graib-Effekt).

Das alles ist ja gutmenschlich und kindlich naiv gedacht, eben „Kindergarten“ (Dany, Du musst es ja wissen). Die Wirklichkeit ist anders, sie ist gewalttätig und hassvoll. Wirklich? Was wirkt, ist ein Weltbild, das sich, ausgehend von der europ. Industrialisierung und unterfüttert durch den Sozialdarwinismus, auf der Erde ausgebreitet hat: Leben ist Kampf. Der Stärkere bleibt übrig. Doch „survival of the fittest“ heißt im Grunde: Nur der (den Naturgesetzen) Angepasste überlebt. Das Leben hat den Erdball nicht durch Kampf und Krieg erobert, sondern durch Vernetzung und Kreativität besiedelt. Nicht Abgrenzung und Feindbildung sondern Austausch (z.B. der Gene) und Symbiogenese sind die maßgebenden Prinzipien der irdischen Lebensentfaltung. Wenn sich die Grünen zu dieser Tiefen-Ökologie durchgerungen haben, bin ich wieder dabei. 

Krisen und Kriege waren in der Vergangenheit notwendig zur zyklischen Reha-Kur des Kapitalismus (Auch der New Deal von Roosevelt war nicht so erfolgreich zur Wirtschaftsbelebung wie der folgende 2. Weltkrieg, lieber Sven). Die Zukunft muss aber anders sein, oder sie wird nicht sein (wohl nur für den Menschen, die Natur lebt danach auf). Die politisch-ökonomische Struktur unseres Gesellschaftssystems ist kaum noch fähig, auf diese Metakrise grundlegend zu reagieren (auch wegen der Verflechtungen: wir alle sind darin mehr oder weniger eingebunden: Opfertäter). Mein Interesse gilt daher verstärkt  der Bildung eines naturnahen Erd-Bewusstseins in einer ganzheitlich denkenden globalen Zivilgesellschaft und darin besonders den alternativen Lebensentwürfen und Gemeinschaftsinitiativen. 

Uns wünsche ich eine friedlichere Zeit und Johan Galtungs Erkenntnis: Unsere Schwierigkeit ist immer noch, dass wir meinen, die anderen seien das Problem und wir die Lösung. 

Rainer Kluckhuhn

Verteilt an: OV Lemgo, KV Lippe, Böll-Stiftung, LAG Gesellschaft der Zukunft, Ute und Burkhard, Tom, Winni, Sven, Dany

Nachtrag (Jan. 2011): Die Kritik an den Grünen und deren Absumpfen in der Parteiendemokratie hat bei mir nicht zu einer Lähmung politischer Aktivitäten geführt: Ich bin u.a. aktiv in Mehr Demokratie e.V. ("bundesweiter Volksentscheid"), denn: Wir sind das Volk!